In der öffentlichen Kreisversammlung am Freitag vor der Europawahl im Gasthaus Staufeneck in Piding haben die Grünen im Berchtesgadener Land das Thema „Migration als Chance“ in den Mittelpunkt gestellt. Als Gäste waren eingeladen Verena Seel, die Fachdienstleiterin Soziale Dienste bei der Caritas Berchtesgadener Land, und die Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) „Integration, Flucht und Migration“ der bayerischen Grünen Verena Machnik sowie Wahib Elaiwah, ein Geflüchteter aus dem Jemen, der in Piding lebt. Auch wenn die Runde mit einem guten Dutzend Interessierte überschaubar blieb, entspann sich eine sehr lebhafte Diskussion. Kreissprecherin Ulrike Schweiger, die sich sowohl in der LAG als auch bei der Caritas als Ehrenamtskoordinatorin engagiert, bedauerte, dass nicht mehr Leute gekommen waren, um sich auszutauschen. „Es ist doch eine Thematik, die die Menschen umtreibt“, so die Freilassinger Ortsvorsitzende.
Während einer Vorstellungsrunde berichteten die Teilnehmer, warum sie das Thema interessiert und wo ihre Anknüpfungspunkte liegen. Genannt wurden berufliche Gründe, etwa die Arbeit mit Geflüchteten bei einem Bildungsträger, ehrenamtliches Engagement vor Ort, aber auch das Entsetzen darüber, wie manche Parteien sich über Menschen in Not äußern und das zum Teil auch in Debatten im Deutschen Bundestag. Sri Fackler aus Freilassing sagte, dass der Umgang mit dem Thema „Migration“ unter anderem der Grund war, warum sie vor einem Jahr von der CSU zu den Grünen gewechselt sei.
Über die aktuellen Zahlen im Landkreis informierte Verena Seel. Derzeit würden sich etwa 2400 Geflüchtete im Berchtesgadener Land aufhalten, davon stammen 1300 aus der Ukraine. Die Menschen seien relativ ungleich verteilt in den Landkreis-Kommunen. Es gibt 67 dezentrale Unterkünfte, Reichenhall und Berchtesgaden haben relativ große Unterkünfte. Für anerkannte Flüchtlinge sei es fast unmöglich, eine Wohnung zu finden, weshalb sie als sogenannte „Fehlbeleger“ in den Unterkünften bleiben. Der Pidinger Gemeinde- und Kreisrat Dr. Bernhard Zimmer sagte, dass das Landratsamt verzweifelt auf der Suche nach Wohnungen sei. Sehr oft scheitere es daran, dass sich die Nachbarn von möglichen Objekten im Vorfeld vehement gegen eine Belegung mit Flüchtlingen aussprechen.
Verena Machnik bestätigte, dass Integration in dezentralen Unterkünften am ehesten funktioniert, am besten, wenn nur eine Familie in einer Wohnung wohnt. Als Sprecherin der LAG Migration bereist sie Land und Stadt, um sich über die Lage vor Ort ein Bild zu machen. Sie nannte den Zuhörern umfangreiches Zahlenmaterial zu Migration und Integration in Bayern und Deutschland. Ende 2023 befanden sich laut Machnik in Deutschland etwa 3 Millionen Flüchtlinge, davon zwei Millionen Menschen im Asylverfahren und eine Million Ukrainer. Damit seien 3,6 Prozent der Bevölkerung Deutschlands Schutzsuchende. In Bayern hätten bis August 23 gut 31 000 Menschen einen Asylerstantrag gestellt, womit der Freistaat im Ländervergleich auf dem drittletzten Platz liege. Auch über die Entwicklung der Asylanträge und die Erwerbstätigkeit legte Machnik Zahlen vor: 2022/23 seien fast 60 Prozent weniger Asylanträge gestellt worden als 2015/16. Und: 54 Prozent der 2015/16 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge haben mittlerweile einen Job. Am Ende ihrer Ausführungen bezog sie sich noch auf eine Studie des Münchener ifo-Instituts vom vergangenen November, wonach eine umfangreiche Zuwanderung erforderlich sei, um das Wirtschaftswachstum in Bayern aufrechtzuerhalten.
Ulrike Schweiger berichtete über die institutionellen und ehrenamtlichen Strukturen im Landkreis. Diese seien mit Caritas, Diakonie, Helferkreisen, Referenten in einigen Gemeinderäten und dem Max Aicher-Mittelschulprogramm, in dem Asylbewerber über 21 Jahren den Schulabschluss machen können, gut aufgestellt. Verena Seel verwies auf die 180 ehrenamtlichen Laiendolmetscher, die größtenteils aus den Reihen von Menschen mit Migrationshintergrund kommen. „Menschen wie Wahib sind sehr wichtig für uns. Sie unterstützen, wenn Geflüchtete Termine bei Behörden, beim Arzt etc. haben“.
Wahib Elaiwah, der aus dem Jemen geflüchtet ist und seit einigen Jahren mit seiner Frau und den Kindern in Piding lebt, brachte sich ebenfalls in die Diskussion ein. Er erzählte über seinen Werdegang und die Flucht aus seiner Heimat, in der seit Jahren ein schlimmer Bürgerkrieg tobt. Trotz eines Studiums und einer Weiterbildung findet er im Landkreis keine Arbeit. Er hat schon viele Bewerbungen geschrieben, aber bisher habe es nicht geklappt. Es gab telefonische Rückfragen seitens potentieller Arbeitgeber, einer habe ihn gefragt, ob es ein Problem für ihn sei, mit Frauen zusammenzuarbeiten. Nein habe er gesagt, aber dann nichts mehr gehört. „Verstanden habe ich das nicht“, so der junge Mann. In Piding würden er und seine Familie sich aber sehr wohl fühlen. Die Arbeit als ehrenamtlicher Laiendolmetscher für Arabisch und Englisch – er hat eine umfangreiche Ausbildung dazu erfolgreich absolviert – sei sehr wichtig für ihn.
In der nun folgenden Diskussion wurden vielfältige Aspekte angesprochen. Verena Machnik griff den Punkt „Ehrenamt“ auf und sagte, dass Bund und Freistaat in die Pflicht genommen werden müssten und nicht alles auf dem Rücken der ehrenamtlichen Helfer ausgetragen werden dürfe. Zudem müssten die Kommunen besser ausgestattet werden. Verena Seel führte an, dass der Landkreis BGL sehr gut darin sei, die Helfer professionell zu unterstützen. Die Zusammenarbeit mit den Behörden sei ebenfalls gut, so die Sozialpädagogin.
Bernhard Zimmer beschrieb die Situation auf Kreisebene als „insgesamt positiv konstruktiv, trotz einzelner Gemeinden, die destruktiv seien“. Der Pidinger Kreisrat erinnerte an den Titel der Veranstaltung - „Migration als Chance“ - und die Sozialraumanalyse, laut der der Landkreis in den nächsten Jahren einen enormen Mangel an Arbeitskräften und Wohnraum bekommt. Einige Kommunen würden bereits aktiv etwas unternehmen, so Zimmer.
In der Folge wurde noch über viele weitere Aspekte diskutiert, etwa wie Integration durch Arbeit gelingen kann, welche Ängste die Bevölkerung hat und wie man gegen das Narrativ „Ihr Grüne wollt alle reinlassen“ argumentiert, denn auch die Grünen wollen weder Gefährder noch Gewalttäter im Land. Thematisiert wurden auch Anspruch und Wirklichkeit der Geflüchteten in Bezug auf Sprachkenntnisse und Berufsausbildung, die Abschiebung straffälliger Flüchtlinge nach Recht und Gesetz sowie die Bezahlkarte. Diese gebe es, wie Verena Seel sagte, wegen des enormen Verwaltungsaufwands noch nicht in unserem Landkreis.
Nach gut zwei Stunden intensiven Austauschs beendete Ulrike Schweiger die Kreisversammlung, wobei viele Anwesende noch weiter diskutierten und über persönliche Erfahrungen und Begegnungen mit Flüchtlingen berichteten. Schweiger kündigte an, der Kreisvorstand wolle das Konzept beibehalten und auch künftig immer ein Sachthema in den Fokus einer Kreisversammlung stellen und kompetente Gesprächspartner dazu einladen.